Botschaft des Europäischen Zentrums für Achtsamkeit
Freiburg im Juli 2023
Liebe Freund*innen und Kolleg*innen,
ich hoffe, dass Sie alle so gut wie möglich durch diese schwierigen Zeiten kommen und die Neigung zu "kind" (freundlichem, wohlwollendem, zärtlichem, offenem) Gewahrsein Sie immer wieder begleitet und Ihnen hilft.
In den letzten drei Jahren war eine der wichtigsten Erfahrungen für mich, zu sehen, wie leicht die Konfrontation mit Ungewissheit und Kontrollverlust die Nähte zivilisierter Gesellschaften zerreißen kann, wie Angst und die Ausnutzung von Angst enorme Wut, Zwietracht und wahnhaftes Denken erzeugen kann, und wie daraus haarsträubende Verschwörungstheorien von ansonsten freundlichen und intelligenten Menschen erwachsen. Wie viele von Ihnen sicherlich wissen, sind "Achtsamkeits-" und "MBSR"-Kreise alles andere als immun dagegen. Das deutet für mich darauf hin, dass entweder "Achtsamkeit" nicht besonders hilfreich ist oder dass einige unserer Interpretationen dessen, was "Achtsamkeit" bedeutet, nicht hilfreich sind, insbesondere wenn diese Interpretationen eine Art von Selbstbezogenheit und moralischem Individualismus betonen. Ich bin überzeugt, dass die in meinen Augen fehlgeleiteten Interpretationen von Achtsamkeit der Grund sind.
Im Laufe von vier Jahrzehnten bin ich allmählich zu der Erkenntnis gelangt, dass die Kultivierung von Achtsamkeit gleichzusetzen ist mit der Kultivierung von Freundlichkeit und „Kindness“ (wie die Absicht, das Leiden von anderen Menschen, von Tieren und von uns selbst zu lindern; oder das Zeigen von Freude über das Glück, das andere und wir selbst erfahren).
Im Wesentlichen geht es bei der Achtsamkeit also um die Kultivierung einer Ethik der freundlichen, mitfühlenden und freudigen Aufmerksamkeit und Handlung. Wir beginnen, sie zu erlernen, indem wir unsere eigenen inneren Prozesse untersuchen und allmählich erkennen, dass das Innere (das Selbst) und das Äußere (das Andere) jeweils völlig durchlässig und vollständig miteinander verbunden sind. Das bedeutet, dass unsere Einstellungen und unsere Verantwortung für andere von größter Bedeutung sind, vielleicht sogar, dass die Erfüllung unseres Selbst konsequent freundliche („kind“) Handlungen gegenüber anderen erfordert.
Vor kurzem bin ich auf einige Texte der Psychotherapeutin und Philosophin Donna Orange (dank Luise Reddeman) und der Sozialphilosophin Judith Butler gestoßen, die sich mit der Klimakrise befassen, deren Gedanken sich aber genauso gut auf andere Themen der Gegenwart beziehen lassen. Beide schreiben nicht direkt über Achtsamkeit, aber jeder ihrer Gedanken berührt direkt die Grundlagen dessen, was Achtsamkeit ist.
Donna Orange (1): "Moralischer Individualismus, der nur auf die eigene Stimme, die eigenen Bedürfnisse, Wünsche und Projekte hört, liegt meiner Meinung nach an der historischen Wurzel der Klimakrise und hält sie unlösbar."
Judith Butler (2): "Was moralisch verbindlich ist...., geht nicht von meiner Autonomie oder meiner Reflexivität aus. Es kommt von anderswo, unaufgefordert, unerwartet und ungeplant. Tatsächlich neigt es dazu, meine Pläne zu ruinieren, und wenn meine Pläne ruiniert sind, kann das durchaus ein Zeichen dafür sein, dass etwas für mich moralisch verbindlich ist."
Donna Orange (1): "Genauso wie eine Krankheit in der Familie, ein Fremder, der auf der Straße stürzt, oder ein Erdbeben in Haiti oder Nepal meine Pläne verändern und meine Aufmerksamkeit fordern kann, wird der Klimawandel - sobald er wirklich in die Formen unseres Bewusstseins eindringt - zu Butlers Störfaktor "von anderswo", der meine Pläne durchkreuzt, so bequem weiterzuleben, wie ich es immer getan habe, oder mir eine Pause zu gönnen. Etwas dann ist für mich moralisch verpflichtend."
Das gilt nicht nur für die Klimakrise, die Kriegssituation in Europa, die Zuwanderung von Geflüchteten, sondern für unsere Beziehungen zu allen Aspekten des Lebens. Zumindest ist es das, was ich glaube und was mich antreibt.
Liebe Grüße
Paul Grossman
1: Climate
Crisis, Psychoanalysis, and Radical Ethics. New
York: Routledge, 2017
2. Precarious Life: The Power of Mourning and Violence. London: Verso, 2004.